ESG

“Anti-ESG” – Warum Führungskräfte widerstehen müssen.

Unternehmen werden in gesamtgesellschaftliche Bewegungen und Themen hineingezogen, die Emotionen wecken, wie z. B.  LGBTQIA+ Rechte, Rassismus- und Kapitalismuskritik, Klimawandel… Unternehmen werden genau wie öffentliche Personen mit Fragen zu ihrer Haltung zu gesellschaftlichen Themen konfrontiert und gar „beschuldigt“, Teil einer progressiven “Woke”- oder “ESG”-Agenda zu sein.

So sehr es sich manches Unternehmen vielleicht wünschen würde, es lässt sich nicht mehr vermeiden, sich zu den großen gesellschaftlichen Themen unserer Zeit zu positionieren und aktiv Stellung zu beziehen. Wichtige Interessengruppen, insbesondere junge Kunden*innen und Mitarbeiter*innen, erwarten dies. Sich auf den Vorwurf der “Wokeness” vorzubereiten und eine Antwort darauf zu finden, ist dann eine wichtige Aufgabe für Führungskräfte.

Worum geht es bei der “Anti-ESG”-Bewegung?

Zunächst einige Begrifflichkeiten und Hintergründe dazu, wie oftmals eine Vielzahl von Themen in einen Topf geworfen werden.

“ESG” (Environmental, Social, Governance) ist in erster Linie die Sprache, die in der Finanzwelt verwendet wird, um das Risiko (und die Chance) für ein Unternehmen oder eine Investition zu messen, das bzw. die sich aus Umwelt- und Sozialfragen ergibt. Der “G”-Teil bezieht sich darauf, wie gut ein Unternehmen mit diesen Themen umgeht.

“Nachhaltigkeit” ist ein viel weiter gefasster Begriff, der die Rolle eines Unternehmens in der Gesellschaft und seine Auswirkungen auf die gesamte Bandbreite von Umwelt- und Sozialfragen betrachtet.

In der Finanzwelt hat sich nun als Gegenbewegung zu den ESG-Fonds eine sogenannte “Anti-ESG” Bewegung formiert. Dies könnte den Eindruck erwecken, als ob das Ziel der Bewegung darin bestünde, ESG-orientierte Investor*innen zu jagen. Tatsächlich steckt dahinter aber eine größere “Anti-Woke” und Anti-Nachhaltigkeits-Bewegung aus der republikanischen Ecke.

 

LGBTQIA+-Rechte

Immer mehr Menschen stehen öffentlich und lautstark zu ihrer Identität und fordern das Recht ein, ein selbstbestimmtes Leben abseits von traditionellen Erwartungen an Geschlechter und Rollen leben zu können. Noch nie war die queere Bewegung so sichtbar wie heute. Dennoch sind weltweit Menschen noch immer Gewalt und Ungleichheit ausgesetzt, manchmal sogar Folter oder Hinrichtung – wegen der Menschen, die sie lieben, wegen ihres Aussehens oder weil sie sind, wer sie sind.

Am 14. Mai 2020 hat die EU-Grundrechteagentur (FRA) die Ergebnisse des zweiten großen LGBTI-Survey veröffentlicht. An der Onlineumfrage haben sich knapp 140.000 Menschen aus 30 Ländern beteiligt. Sie ist damit die größte internationale Umfrage unter LGBTI. Hier nur einige ausgewählte Ergebnisse:

  • 13% der schwulen und 10% der bisexuellen Männer wurden in den letzten fünf Jahren angegriffen, weil sie schwul bzw. bisexuell sind.
  • 45% der befragten Lesben und 43% der befragten bisexuellen Frauen wurden in mehr als acht Lebensbereichen in den letzten 12 Monaten aufgrund ihres Lesbisch- bzw. Bisexuell-Seins diskriminiert.
  • Bei der Jobsuche haben 36% der trans* Personen in den letzten 12 Monaten Diskriminierung erfahren. 39% wurden im letzten Jahr am Arbeitsplatz diskriminiert.
  • 57% der befragten inter* Personen haben während ihrer Schulzeit erlebt, dass sie beleidigt, bedroht oder lächerlich gemacht wurden. Während der Schulzeit gegen sie gerichtete negative Kommentare oder negatives Verhalten erlebt haben.

Die Unterstützung von LGBTQIA+-Rechten ist für die Wirtschaft nicht neu. Im Sommer 2017 hat die Bundesregierung den Nationalen Aktionsplan gegen Rassismus erweitert und ächtet darin auch Homosexuellen- und Transfeindlichkeit. Im Januar 2021 kürte die Uhlala Group zum zweiten Mal die 30 größten LGBTQIA+ Supporter unter den DAX 30 Konzernen.

Die rechtliche Grundlage ist im deutschen Grundgesetz verankert, das allen Bürger*innen gleiche Rechte zusichert. Im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) werden europäische Richtlinien gegen die Benachteiligung, sprich: Diskriminierung aus rassistischen Gründen oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität in deutsches Recht im Bereich Beschäftigung und Beruf umgesetzt.

 

Vielfalt, Gerechtigkeit und Integration (DEI)

In den letzten Jahren hat die Zahl der Chief Diversity Officer signifikant zugenommen, und die Leistung der Unternehmen in Bezug auf Diversitätskennzahlen wurde zu einem viel häufigeren Bestandteil der Vergütung von Führungskräften.

Doch die ESG-Gegner*innen greifen die DEI-Bemühungen regelmäßig an, auf z.T. absurde Weise, wie das nachfolgende Beispiel veranschaulicht:

Unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Silicon Valley Bank schoben der Gouverneur von Florida und rechtsextreme Expert*innen den Zusammenbruch auf “Wokeness” und Vielfalt.
In einem schockierenden Meinungsartikel im Wall Street Journal, der die bescheidenen Verbesserungen bei der Vertretung im Vorstand der Bank kommentierte, hieß es: “Ich behaupte nicht, dass 12 weiße Männer diesen Schlamassel verhindert hätten, aber das Unternehmen hat sich vielleicht von den Forderungen nach Vielfalt ablenken lassen.” Diese Aussagen sind nicht nur unbegründet – es gibt keinerlei Beweise dafür, dass Diversität bei dem Zusammenbruch überhaupt eine Rolle gespielt hat – sondern auch rassistisch.

 

ESG-Investitionen

Die Idee, Investitionen nach ökologischen und sozialen Gesichtspunkten zu prüfen, gibt es schon seit Jahrzehnten. Doch in den letzten Jahren hat eine kritische Masse von Anlegern eindeutig beschlossen, dass globale Mega-Herausforderungen wie der Klimawandel wirtschaftliche und geschäftliche Risiken mit sich bringen, die sie verstehen und in ihre Entscheidungen einbeziehen sollten.

Sie untersuchten Unternehmen auf ESG-bezogene Risiken, legten umfangreiche neue Fonds auf und zogen Hunderte von Milliarden an Kapital an – mit dem Ergebnis, dass im Jahr 2022 mehr als 100 Billionen Dollar in ESG-Fonds investiert wurden.

Auch wenn die Definitionen, die den ESG-Fonds zugrunde liegen, schwer festzulegen sind und das Feld noch im Entstehen begriffen ist, hat sich ESG trotz aller Unsicherheiten durch die Pandemie und die Achterbahnfahrt der Tech-Aktien behauptet.

Die Gründe, warum die Anleger*innen trotz aller Ungewissheit und Unklarheit vorwärts gegangen sind, liegen darin, dass a) die ökologischen und sozialen Kräfte, die die Risiken für die Wirtschaft antreiben, wie z. B. der Klimawandel, real und präsent sind und b) die Kund*innen ESG- und Impact-Investing-Optionen fordern.

 

Die Verantwortung und Rolle eines Unternehmens in der Gesellschaft zu steuern, ist eine der großen Management-Herausforderungen unserer Zeit. Führungskräfte sollten diese Aufgabe immer im Blick haben und 4 Dinge beachten:

Lasst Euch nicht von lauten Stimmen davon abhalten, das Richtige zu tun.

Die Banken, die sich gegen die ESG-Gesetze wehren, wollen keine Medaillen für ihre Philanthropie, sondern sie tun es, weil es ein gutes Geschäft ist. Umwelt- und Sozialfragen haben erhebliche materielle Auswirkungen auf Unternehmen, was bedeutet, dass Investor*innen gesetzlich verpflichtet sind, sie zu berücksichtigen.

Auch die Investor*innen müssen weiterhin ESG-Produkte und -Dienstleistungen anbieten, weil ihre Kund*innen dies verlangen: Impact Investing und ESG. Das ist ein erstaunlicher Wandel, der sich in den letzten Jahren vollzogen hat – weg von der üblichen Fokussierung auf Renditemaximierung, Philanthropie und die Planung von Familienstiftungen.

 

Ihr mögt es hassen, Euch in politische Fragen einzumischen, aber Ihr könnt es nicht vermeiden.

Die Unternehmen können nicht mehr abseitsstehen, denn es gibt kein Abseits mehr. In einer transparenten Welt wird Schweigen Bände sprechen.

Unternehmen können nicht postulieren, dass sie für Gerechtigkeit eintretet, und dann schweigen, wenn die Rechte ihrer Mitarbeiter*innen oder Kunden*innen beschnitten werden.

Ebenso sollten keine aggressiven Ziele zur Verringerung des Kohlendioxidausstoßes verfolgt, dann aber Lobbyarbeit gegen staatliche Maßnahmen zur Emissionsreduzierung betrieben oder diese Aufgabe einem Berufsverband überlassen werden. Es muss eine Strategie für das entwickelt werden, was Manche als politische Verantwortung der Unternehmen bezeichnen.

Unternehmen müssen ihre Verbündeten neu bewerten. Ihre Verbundenheit mit einer Partei und ihren Philosophien bezieht sich nicht mehr nur auf Steuersätze, spezielle Industrieanreize oder Gesetze.

Stattdessen gilt es zu beurteilen, was dem eigenen Unternehmen und der eigenen Branche wirklich helfen wird, einen gerechteren und positiveren Weg einzuschlagen, die eigenen Ziele zur Reduzierung der Kohlenstoffemissionen zu erreichen und die Mitarbeiter*innen und Kunden*innen zu schützen. Unternehmen sollten mit denjenigen zusammen arbeiten, die in gutem Glauben dazu beitragen werden, dies zu erreichen.

 

Tut das Richtige.

Unternehmen sollten den lauten Stimmen in der Öffentlichkeit nachgeben, die den Fortschritt hin zu einer gerechten und nachhaltigen Welt bremsen oder bestimmten gesellschaftlichen Gruppen ihre Grundrechte nehmen wollen. Insbesondere jüngere Kunden*innen und Mitarbeiter*innen möchten, dass sich Unternehmen für alle Teile der Gesellschaft einsetzen und ihre Werte konsequent vertreten – auch wenn das unbequem ist.

Unternehmen sollten weiterhin dafür kämpfen, dass alle Menschen das Recht haben, zu leben und zu sein, wie sie sind, alle die gleichen Rechte haben und dass unser gemeinsames Klima unsere Existenz sichern kann.

Es sollte über das Wie debattiert werden, z. B. darüber, was der richtige Policy-Mix oder Ansatz der Wirtschaft ist, um den Klimawandel zu bekämpfen. Aber moralisch, fiskalisch und wissenschaftlich gesehen ist es richtig, zu handeln.

 

Der Mut zur Führung

Unternehmen sollten aufstehen und ihren Mitarbeiter*innen und Stakeholder*innen zeigen, was für die Werte des Unternehmens und für die Gesellschaft inakzeptabel ist. Es gilt, den Mut-Muskel zu entwickeln. Wie bei allen Kontroversen – vor allem bei den erfundenen – bleiben einige Unternehmen standhaft, während andere die Flucht nach vorne antreten. Was in diesem Rahmen Chief Sustainability Officer zu verantworten haben, lesen Sie hier.

Der Kampf der Investor*innen gegen das ESG schafft auch Trennlinien. Wie Bloomberg kürzlich berichtete, hat sich Morgan Stanley dazu entschlossen, “doppelt auf ESG zu setzen” und im Februar weitere Fonds aufgelegt. Gleichzeitig hat sich der Fondsriese Vanguard aus einer globalen Vereinbarung zurückgezogen, die vorsieht, dass seine Portfolios bis 2050 kohlenstofffrei sein sollen.

Einige Unternehmen scheinen sich auf einen verworrenen Mittelweg zuzubewegen, der als “Greenhushing” bezeichnet wird, d. h. sie setzen ihre ökologischen und sozialen Bemühungen fort, versuchen aber, leise zu bleiben wie ein*e Teenager*in, die*der sich nach der Ausgangssperre hereinschleicht. Ein Viertel der Unternehmen gab in einer neuen Umfrage an, die eigenen Klimaziele nicht zu veröffentlichen.

Die alte Binsenweisheit “Wähle deine Schlachten mit Bedacht” ist immer ein guter Rat, aber für manche Schlachten und Rechte lohnt es sich zu kämpfen.

Wenn ein Unternehmen sich dazu entschließt, öffentlich Stellung zu beziehen, sollte es den eigenen Interessengruppen klar mitteilen, worauf es Wert legt. Wenn Unternehmen schweigen, verpassen sie die Gelegenheit, Verbündete zu gewinnen und kollektiven Mut zu entwickeln.