Von der Möglichkeit und Unmöglichkeit zu verändern. Eine systemische Sicht.

Liebe Leserinnen und Leser,

seit nunmehr 3 Jahrzehnten begleitet eurosysteam Change, heutzutage Transformation genannt.
Wir sind eine systemische Beratung, was nicht weiter schlimm ist, solange nicht verstanden wird, was das für den Begleitprozess bedeutet.

Unternehmensberatungen zeichnen sich für gewöhnlich dadurch aus, mit guten Lösungen im Koffer einzureiten. Der Prozess ist erklärbar, planbar und folgt einer in sich kongruenten Logik, oft wird der Return on Investment ermittelt. Falls es nicht aufgeht, sind die Menschen im Kundensystem schuld. Ziel ist meist, etwas zu vereinfachen, günstiger oder effizienter zu machen – was per se nicht falsch ist. Dafür werden Prozesse und Mitarbeitende auf Linie gebracht, Abweichungen verringert. Jede und jeder soll genau verstehen was ihr/sein Job ist.

Es ist der Versuch, Lebendigkeit aus dem System zu drücken, es soll maschinenartiger werden. Das ist kurz die Erfolgsgeschichte der Beratung großer skalierender Organisationen im letzten Jahrhundert. Wer so vorgeht, um typische Probleme der heutigen Zeit zu lösen, ist allerdings auf dem Holzweg. Wir brauchen ganz viel Lebendigkeit in Organisationen, wir sprechen gerne von Selbstorganisation, weniger gerne von zentralisierter Kontrolle. Das und mehr unterscheidet die klassische Beratung von der systemischen. Aber der Reihe nach. Dieser Text dient als Warm-up und hat nicht den Anspruch auf Vollständigkeit.

Ostern ist vorbei, vielleicht haben Sie die Tage im Kreis der Familie verbracht. Hat sich wieder einmal bekanntes Verhalten eingeschlichen? Wir nennen bekannte Verhaltenswiederholungen Muster, mitunter sind das sehr stabile Muster. Wer Muster verstehen will, sollte versuchen, sie zu ändern.

Je länger ein System besteht, umso komplexer es ist (die Anzahl möglicher Zustände geht gegen unendlich), desto stabiler können diese Muster sein. Typische Abläufe, Reaktionen, Umgang miteinander, Nervendes oder Erfreuliches, das, was umgangssprachlich als Kultur spürbar ist. Ein hochkomplexes und stabiles System kann daher beobachtet und beschrieben werden. Hier setzt die systemische Beratung an. Es ist der Versuch funktionale und dysfunktionale Verhaltenswiederholungen zu erkennen und daraus zu lernen. Zum Beispiel kann anschließend überlegt werden, wo eine Intervention an das System angesetzt wird, um eine Veränderung auszulösen. Eine signifikante Musterunterbrechung, die einen Unterschied provoziert. Ein anderer oder ergänzender Weg ist das Aufspüren von unüblichen aber funktionalen Verhaltensmustern, mehr oder weniger versteckt in der Organisation. Die Fragen lauten: Wo in der Organisation befinden sich bereits jetzt Merkmale angestrebter Kultur, also Ausnahmen von Problemen? Und was ist dort anders?

Spielen wir eine Musterunterbrechung durch am Beispiel der eigenen Familie, um systemische Beratung besser zu verstehen. Wir erklären dem Vater oder der Mutter – oder wem auch immer aus der engeren Familie – zu Weihnachten bitte ein typisches (dysfunktionales) Verhalten zu unterlassen. Schwer genug, aber denkbar mit guten Argumenten. Nehmen wir an, es gelänge, was würde passieren im Familiensystem? Eben, wir wissen es nicht! Das ist die Besonderheit systemischer Beratung, wir können und wollen es nicht vorhersagen. Wenn wir aktiv Stabilitätsmuster unterbrechen, setzt ein sich selbst organisierender Prozess ein, der in alle möglichen Richtungen laufen kann. Komplex minus stabil gleich unvorhersagbar. Und damit nicht genug, wir müssen einen langen Atem haben, immer wieder intervenieren, sonst ist der Rückfall in alte Gewohnheiten gewiss.

Wenn wir dieses Beispiel auf einen beruflichen Kontext übertragen, geht spätestens jetzt dem Auftraggeber/Kunde ein Licht auf, was er/sie sich mit einer systemischen Beratung eingehandelt hat. Das geht so nicht, dann ist ja nichts mehr unter Kontrolle! Das wollen wir nicht, es muss einen anderen Weg geben.
Nun ja, lautet die Antwort, wir könnten den selbstorganisierenden Mächten einen Rahmen geben. Grenzen, Prinzipien, die befolgt werden müssen, andere Strukturformen festlegen, die nicht verhandelbar sind. Hört sich schon besser an, ist allerdings nicht ganz leicht. Das, was wir ändern, müsste im Resultat die Bedürfnisse treffen, zumindest der Mehrzahl der Menschen. Sie sollten es wollen und als gut befinden, sonst handeln wir uns den vielzitierten Widerstand ein. Aber wer weiß schon, was die Mehrheit der Menschen will? Und wollen alle an jedem Ort dasselbe? Und macht es uns überhaupt erfolgreich?

Es braucht eine gehörige Portion Überzeugung, Einsicht, Erfahrung, um das selbstsicher zu beantworten. Und es kann funktionieren, wenn wir nicht verbissen an den Startentscheidungen festhalten, sondern von den Reaktionen der Menschen lernen, wir lokale Unterschiede zulassen und anpassungsfähig bleiben. Doch Gefahr! Das, was an Veränderungsimpuls nötig ist, fühlt sich für die Hierarchie bedrohlich und fremd an. Es gibt für sie immer mehr Argumente dagegen als dafür. Kopf und Herz müssen bereit sein, sonst gibt das nichts. Deshalb kann an diesem Punkt die Zusammenarbeit zwischen Kunde und systemsicher Beratung abrupt enden. Der Wunsch nach der alten, vertrauten Beratungswelt wird zu groß.

Ein stabiles komplexes System neigt dazu, sich selbst zu erhalten. Seien wir ehrlich, es ist im Rahmen des Wahrscheinlichen, dass es unmöglich ist, etablierte Stabilitäten zu verändern. Gemeint ist damit ausgerichtet auf ein vorher festgelegtes Ziel. Nehmen wir uns vor die nächsten drei Familientreffen ausschließlich fröhlich und mit ehrlichem Interesse an den anderen zu verbringen. Im Prinzip sollte das doch die Bedürfnisse der meisten Familienmitglieder treffen. Funktionieren muss es trotzdem nicht, da wir uns eingerichtet haben, unsere Rolle gefunden, teilweise unseren Selbstwert (im Unternehmen die Karriere) darauf aufgebaut haben. Oder wir schlichtweg keine Energie für Veränderung aufbringen können.

Auch wenn es etwas pessimistisch klingt (aber vertraut, wenn Sie ehrlich sind), bleibt Ihrer Organisation keine Wahl. Sie muss sich verändern, an die neuen Herausforderungen anpassen, wenn sie überleben will. Auf lang oder kurz, auch das kann keiner sagen. Also, worauf warten Sie?! Vielleicht liegt die Lösung für Ihre Organisation in der Kombination unterschiedlicher Wege im Transformationsprozess. Es gibt nämlich einen weiteren:

Wie sieht es aus, vorerst nichts zu verändern? Stattdessen im eigenen Haus aufzuspüren, wo bereits andere, erfolgreiche, zufriedenstellende Verhaltensmuster existieren. Eine sehr gute Idee, durchaus systemisch! Ein Satz, mit dem wir unsere Kunden gerne quälen: Das System entscheidet am Ende immer selbst, ob es passt oder nicht. Den Beleg hätten wir hier. Sie denken, das gibt es nicht bei uns? Weit gefehlt, ohne diese Ausnahmen würde Ihre hierarchische Organisation längst nicht mehr existieren.

Jetzt muss es wachsen, größer werden, zum akzeptierten Neuen reifen. Der Prozess der Veränderung verläuft hier anders, von Peer zu Peer, von überzeugter authentischer Einsicht mit Erfolgsbeweis. Innerhalb identifizierter (Leit-) Prinzipien können nun lokal unterschiedliche Lösungen gefunden und in einem Kreislauf von Beobachtung, Lernen und Adaption weiterentwickelt werden. Das ist es, wenn wir von Lebendigkeit sprechen.

Ich wollte Ihnen mit diesem Text einen kleinen Einblick geben in unsere systemische Welt von Change, Transformation, OE/PE. Mögliche (wissenschaftliche) Ungenauigkeiten oder gar Patzer bitte ich zu entschuldigen, darum sollte es hier nicht gehen. Mir ist klar, der Vergleich mit der Familie hinkt, wenn es um Organisationen geht.

 

Mit vielen Grüßen,
Lars Geiseler