Gefangen zwischen den Referenzen (oder zwischen den Stühlen)

Letztes Jahr zu Winterbeginn wollte ich meinen Wagen zum einfachen Reifenwechsel (ohne weiteren Schnick Schnack) anmelden und rief bei der Niederlassung des Herstellers an. Mein Anruf landete im Callcenter und die Dame am Apparat fragte mich freundlich nach dem Kennzeichen und dem km-Stand. Diesen wusste ich leider nicht (meist ist meine Frau mit dem Wagen unterwegs) worauf mir die Dame – immer noch sehr freundlich aber bestimmt – mitteilte: „Dann kann ich Ihnen leider keinen Termin geben. Den km-Stand muss ich nämlich vorher hier ins System eingeben“.

Ein schönes Beispiel für eine Mitarbeiterin, die ohne eigenes Verschulden „zwischen die Fronten“ gerät: auf der einen Seite die externe Referenz (der Kunden mit einem Terminwunsch und der Bereitschaft Geld auszugeben) und auf der anderen Seite die interne Referenz (die Vorgabe vor Terminvergabe den km-Stand ins System einzuspeisen). Eigentlich sollte doch klar sein, dass ein Unternehmen die externe Referenz nicht aus dem Blick verlieren darf (schließlich kommt das Geld vom Kunden) und interne Referenzen wie blockierende Dateneingaben in IT-Systeme dagegen an Gewicht verlieren sollte. Leider ist dem nicht so.

Interne Referenzen (Prozesse, Richtlinien etc.) entstehen oft aus vermeintlich gutem Grund. Das Unternehmen will Fehler aus der Vergangenheit vermeiden, Abläufe effizienter gestalten oder in meinem Fall wahrscheinlich über den km-Stand vorab schon mal klären, ob der Wagen bald einen Service braucht oder dem Kunden noch etwas anderes angeboten werden kann. Also übersetzen tayloristisch geprägte Organisationen diese Erfahrungen und Überlegungen in interne Referenzen, Vorgaben/Regeln am besten auch gleich noch verbunden mit einer internen Kennzahl zur Kontrolle und Steuerung (Zielvereinbarung lässt grüßen).

Dieses System funktioniert auch, solange sich die externen Referenzen, die Marktbedingungen wie Kundenwünsche, Wettbewerberangebote oder gesetzliche Rahmenbedingungen selten oder nur langsam ändern. Und da liegt das Problem: in unserer dynamischen Geschäftswelt entstehen vermehrt Überraschungen: Kundenwünsche/-verhalten ändern sich oder alternative Anbieter fordern den Kunden weniger mit formalen Hürden bei der Nutzung ihrer Produkte und Dienstleistungen (Stichwort: freie Werkstätten).

Die Reaktion auf diese Entwicklung ist in vielen Unternehmen das nächste Problem: noch mehr interne Vorgaben, Regeln und Prozesse, um jedwede Form von Dynamik am Markt im Unternehmen in Stabilität (klare wenn-dann-Beziehungen) zu übersetzen. Und die Mitarbeitern müssen sich dann an internen Referenzen orientieren, die nicht zu den externen Problemen passen, die sie gerade vor der Brust haben.

Das führt die Mitarbeiter direkt in einen unangenehmen – ja schizophrenen Zwiespalt: sie möchten dem Kunden helfen und Wertschöpfung erzeugen, verstoßen damit aber im schlimmsten Fall gegen interne Richtlinien. Und so können sie entweder die Frustration des Kunden ertragen oder sie kommen ihm irgendwie – trotz der Vorgabe oder gegen die Vorgabe handelnd – entgegen, während sie im Hinterkopf permanent Angst haben, von ihrer Organisation dabei erwischt zu werden. Diese Zerrissenheit zwischen den beiden Referenzen ist zunehmend für Mitarbeiter psychisch belastend.

Was es heute braucht sind flexible Reaktionsmöglichkeiten für Mitarbeiter, die am Markt Probleme lösen können und wollen. Hier braucht es Eigenverantwortung und Flexibilität und keine starren Regeln und Vorgaben, denn Entscheidungen, die sich sinnvoll an externen Referenzen orientieren, werden in der Peripherie des Unternehmens getroffen und nicht in der Zentrale weit weg vom Markt und seiner Dynamik.

Meinen Termin habe ich dann doch noch bekommen: die Dame hat das System ausgetrickst. „Sie hatten doch vor zwei Monaten einen Servicetermin. Hier steht ihr damaliger km-Stand. Sind sie seitdem viel gefahren? Nein! Dann schlagen wir einfach mal 2.000 km drauf – das wird schon passen.“ Ich hoffe sie bekommt für so viel Kundenorientierung keinen Ärger mit den internen Regelhütern.