Während sich Organisationen und Einzelpersonen auf der ganzen Welt auf eine Mischung aus persönlicher und virtueller Arbeit einstellen, erfahren wir mehr über die Chancen und Risiken, die diese Mischform mit sich bringt. Ein zentrales Anliegen ist die Entwicklung von Führungskräften. Wir wissen, dass einige der wichtigen Methoden, mit denen Führungskräfte bei der Arbeit lernen – wie zufällige Interaktionen und informelles Feedback – in virtuellen und hybriden Kontexten leiden. Dies könnte in der Tat genau der richtige Zeitpunkt für die Entwicklung von Führungskräften sein, um sich selbst neu zu erfinden – weg vom Modell des wöchentlichen Lernens im Klassenzimmer, hin zu etwas, das mehr auf Erfahrung und Anwendung ausgerichtet und teilweise virtuell ist.
Der erste Schritt besteht darin, zu verstehen, wie sich Führungskräfte entwickeln, und zwar über die bekannte Theorie hinaus, dass 70 % des Lernens durch praktisches Tun (Erfahrung am Arbeitsplatz), 20 % durch Feedback und größere Selbsterkenntnis (durch Interaktion mit anderen) und 10 % durch formale Schulung erfolgt. Unsere Projekte der letzten drei Jahre haben einen alternativen – und unserer Meinung nach effektiveren – Rahmen für diesen Prozess aufgezeigt, bei dem drei Maßnahmen im Vordergrund stehen:
- Sensibilisierung, d.h. zu verstehen, wie die Geschäftswelt und die Organisation um einen herum funktionieren und wie andere mit einem umgehen.
- Experimentieren oder Testen von Ideen, die man im Unterricht, von Kollegen oder aus persönlicher Erfahrung aufgenommen hat.
- Selbstentdeckung oder Herausfinden der eigenen Identität am Arbeitsplatz.
In der Praxis bedeutet dies eine einfache Umorientierung: Anstatt sich auf die drei Komponenten der Führungsentwicklung zu konzentrieren, konzentrieren wir uns auf die Wege zwischen ihnen. Es ist zum Beispiel möglich, durch Versuch und Irrtum am Arbeitsplatz zu lernen. Dieses Lernen wird jedoch erheblich verbessert, wenn man sich auch die Zeit nimmt, darüber nachzudenken, was man mit einem Kollegen getan hat (Verknüpfung der 70 % mit den 20 %), oder wenn die Idee, die man ausprobiert, eine ist, die man gerade erst in einer Unterrichtseinheit kennen gelernt hat (Verknüpfung der 10 % mit den 70 %).
Mal ein Beispiel aus einem unserer Kunden-Projekte:
In 2021 haben wir ein Programm zur Entwicklung von Führungskräften bei Evonik auf diese Weise konzipiert. Bei den Teilnehmern handelte es sich um 30 leitende Angestellte aus dem Geschäfts- und Funktionsbereich. Wir gestalteten eine 5-monatige Lernreise, bei der sie diese drei Wege durchliefen.
Sensibilisierung / Sinnstiftung
In der ersten Phase des Programms konnten sich die Teilnehmer in fünf Themengebiete mit Lernimpulsen beschäftigen, die über das Evonik-interne LMS zum asynchronen zeitlich-flexiblen Lernen bereitgestellt wurden. Diese Lernthemen waren an den aktuellen organisationalen Herausforderungen von Evonik orientiert: Strategy Implementation, Change & Transformation, Developing/Shaping High Performance Teams, Creating lasting impact in the organization, Managing VUCA/Being more agile.
Diese Lernfelder wurden im ersten Präsenzmodul, einer 3-tägigen Unternehmens-Simulation aufgegriffen. In der Simulation konnten die Teilnehmer eine Unternehmensentwicklung von ca. 5 Jahren in Zeitraffer erleben und dabei in unterschiedliche Rollen schlüpfen, um sich in herausfordernden Situationen auszuprobieren (Kritikgespräche, Townhall-Kommunikation, Strategie-Entwicklung und -Kommunikation, Unternehmensfusion…). In kontinuierlichen Feedback- und Reflexionsschleifen wurden die Teilnehmer an ihre individuellen Entwicklungsbedarfe heran geführt.
Im Anschluss an das erste Modul wurden die bestehenden fünf Lernfelder um vier weitere ergänzt: Leading myself, Leading others, Motivation und Conflict Management. In diesen nun neun Lernfeldern konnten die Teilnehmer frei auswählen mit welchen Themen sie sich wie stark beschäftigen wollten – basierend auf ihren Interessen und Entwicklungsbedarfen. In jedem Lernfeld standen erneut Impulse im internen LMS zur Verfügung sowie ein gemeinsames (synchrones) Webinar mit einem Coach, in welchem Modelle vertieft, Erfahrungen geteilt und Fragen beantwortet werden konnten.
Diese Freiheit und Flexibilität wurde auch im zweiten Präsenzmodul – einem zweitägigen Open Space Format (unserem eigens entwickelten App Space) – zum Prinzip erhoben. Erneut konnten die Teilnehmer aus Vertiefungen (90-minütige Lernsequenzen sog. Apps) zu den neun Lernfeldern ihre Sessions auswählen und sich so einen individuellen Seminarablauf zusammen stellen. Darüber hinaus konnten die Teilnehmer eigene „Apps“ anbieten (z.B. Berichte aus Projekten, Anwenderempfehlungen von hybriden Arbeitstools…). Parallel bestand die Möglichkeit Einzelcoaching oder eine kollegiale Fallberatung anzufragen.
Experimentieren
Am Ende des zweiten Moduls erhielten die Teilnehmer eine Anleitung zum Aufbau von Experimenten und wurden gebeten, Ideen für Experimente zu entwickeln, die sie in den kommenden Wochen in die Praxis umsetzen wollten. Einige entscheiden sich hier i.d.R. für „Geschäftsexperimente“, d.h. sie testeten konkrete Veränderungen in den Abläufen ihrer Teams (z. B. die Vereinfachung eines internen Prozesses oder die Erprobung einer neuen Art der Interaktion mit externen Kunden). Andere führen „Führungsexperimente“ durch, bei denen sie bewusst ihr eigenes Verhalten änderten (z.B. die Art und Weise, wie sie Sitzungen leiteten oder Feedback gaben).
Um diese Phase in einer (noch) sehr virtuell angelegten Arbeitswelt zu unterstützen, haben wir die Teilnehmer:innen kleineren Gruppen (ca. fünf Personen) zu sog. Transferteams zusammen gefasst. Als sie in ihren „normalen Job“ zurückkehrten, merkten die Teilnehmer, dass die starke Betonung des Experimentierens dazu beigeträgt ihr Interesse aufrechtzuerhalten – wie bei der Sinnfindung.
Selbstentdeckung
In der letzten Phase treffen sich die Transfergruppen virtuell mit einem ihnen zugewiesenen Coach um die Erfahrungen aus den Experimenten zu reflektieren und auszutauschen, einschließlich der Erkenntnisse über ihren Kooperationsstil in der Gruppe.
Unsere Schlussfolgerungen
Unsere Erfahrungen mit diesem Programm und unsere Beteiligung an anderen Programmen haben uns dazu veranlasst, eine Reihe von Grundsätzen für die Entwicklung von Führungskräften zu skizzieren, von denen wir erwarten, dass sie in den kommenden Jahren immer wichtiger werden. Wir glauben, dass Organisationen bei der Entwicklung ihrer Führungskräfte neue Ansätze verfolgen sollten, die folgende Kriterien erfüllen:
- Iterativ
Wir empfehlen einen Ansatz, bei dem neue Ideen vermittelt werden und die Teilnehmer sich dann an der Sinnfindung und am Experimentieren beteiligen, damit das Gelernte auch wirklich verinnerlicht wird. - Individuell
Je erfahrener Führungskräfte sind desto individueller sind die Lernbedarfe. Solch eine Zielgruppe durch ein Programm zu schleusen in denen alle das gleiche lernen „müssen“ ist weniger erfolgreich, als ein Programm, das den Lernenden die Wahl lässt, auf welche Wissensgebiete und Impulse aus diesen sie reagieren sprich lernend eintauchen wollen. - Eingebettet
Anstatt Führungskräfte zu bitten, ein paar Tage bis zu einer Woche an einem Programm teilzunehmen und dann nebenbei ein Folgeprojekt durchzuführen, sollten wir die Programme in ihren Arbeitsalltag einbetten. Wenn die Teilnehmer leichten Zugang zu kleinen Lernimpulsen haben und zeitlich flexibel darauf zugreifen können, steigert das die Akzeptanz des Programms. Und wenn sie dann auch noch erkennen können, wie sich die Bemühungen um die Entwicklung von Führungskräften auf ihre Teams und Ergebnisse auswirken, werden sie sich viel stärker für den Prozess engagieren. - Experimentell
Um die Trägheit und Risikoscheu vieler etablierter Organisationen und ihrer Mitarbeiter zu überwinden, ist Experimentieren der Schlüssel. Anstatt zu versuchen, das System oder das Verhalten der Führungskräfte auf einmal zu ändern, sollten Sie es in überschaubare, leichter zugängliche Schritte unterteilen. - Unterstützt
Unsere Forschungen haben gezeigt, dass die Selbsterkenntnis bei jeder Art von Führungsaufgabe eine wichtige Rolle spielt. Das kann man zwar auch alleine tun, aber mit einem erfahrenen Coach, der die richtigen Fragen stellen und unabhängiges Feedback geben kann, funktioniert es viel besser. Und dank des pandemischen Anstiegs der Fernarbeit wissen wir heute, dass wir nicht im selben Raum wie unsere Kollegen oder unser Coach sein müssen. - Multimedial
Es liegt auf der Hand, dass die Art des Lernens (Face-to-Face, Hybrid oder rein virtuell) auf die jeweilige Aktivität zugeschnitten sein sollte, aber seit Covid wissen wir nun viel besser über die Vorteile und Grenzen der Videokonferenztechnologie Bescheid, was es uns ermöglichen wird, eine sinnvollere Mischung aus physischen Zusammenkünften, virtuellen Sitzungen in größeren Gruppen und Coaching-Sitzungen in Einzelgesprächen oder kleineren Gruppen zusammenzustellen. Die Kosteneinsparungen werden beträchtlich sein – Lern- und Entwicklungsaktivitäten können über längere Zeiträume und mit größerer Wirkung durchgeführt werden.
Die Entwicklung von Führungskräften steht vor einer Neuausrichtung, und hybrides Arbeiten kann der Katalysator sein. Viele Unternehmen probieren bereits neue Modelle aus, und es gibt noch viel Spielraum für weitere Experimente. Lassen Sie sich diese Chance nicht entgehen. Wir stehen gerne mit unserem Know-how und unseren Projekterfahrungen für einen Austausch zur Verfügung.
-Steffen