Nicht Menschen haben Konflikte, Konflikte haben Menschen.

Peter Fischer

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Als systemisch denkender Mensch betrachte ich das Thema Konflikte von Zeit zu Zeit bewusst durch eine ungewöhnliche Brille: “Nicht Menschen haben Konflikte, Konflikte haben Menschen”. Diese Umkehrung, die den Menschen auf den ersten Blick relativ passiv erscheinen lässt, eröffnet eine neue Perspektive auf das Phänomen Konflikt, die weit über die individuelle Ebene hinausgeht und die kollektive (systemische) oder sogar historische Dimension von Konflikten beleuchtet. Diese Sichtweise erlaubt es, Konflikte nicht nur als vorübergehende Störungen zwischen Individuen zu begreifen, sondern als eigenständige Entitäten, die Menschen “in Besitz nehmen” und manchmal ein regelrechtes Eigenleben entwickeln. Dann wird auch verständlich, dass Konflikte zwischen Personen, aber auch zwischen Teams oder ganzen Berufsgruppen “vererbt” werden können.

Solche vererbten Konflikte sind natürlich auch die oft über Jahrzehnte andauernden Auseinandersetzungen zwischen Nationen oder Religionen, die dann immer wieder genährt werden. Diese Konflikte werden nicht selten von Generation zu Generation weitergereicht, als wären sie ein unerwünschtes Erbstück, das niemand wirklich haben will aber dann doch in Ehrfurcht oder einfach unreflektiert annimmt.

Auch in der Arbeitswelt, insbesondere in bestimmten Berufsgruppen oder Teams, können Konflikte „vererbt“ werden. Beispielsweise kann eine langjährige Rivalität zwischen Abteilungen eines Unternehmens oder zwischen verschiedenen Berufsgruppen über Jahre hinweg ausgetragen werden. Neue Mitglieder dieser Gruppen „erben“ den Konflikt, den sie weder begonnen haben noch vollständig verstehen. Oft ist niemand mehr da, der die Entstehung des Konflikts selbst miterlebt hat.

Als personifizierte Entitäten haben Konflikte eine gewisse Hartnäckigkeit, fast ein Beharrungsvermögen, von Generation zu Generation weitergegeben zu werden. Es scheint fast so, als hätten Konflikte ihren eigenen Überlebensinstinkt, der sie an uns haften lässt wie ein Virus an seinem Wirt.

Die Betrachtung von Konflikten als eigenständige, sich selbst perpetuierende Entitäten bietet vielleicht eine neue Perspektive auf das menschliche Zusammenleben und könnte auch den Schlüssel zu innovativen Konfliktlösungsstrategien liefern, die nicht nur Symptome bekämpfen oder an das Verhalten der Beteiligten appellieren, sondern auch die zugrunde liegenden, sich selbst perpetuierenden Mechanismen von Konflikten adressieren.

Überlebensstrategien von Konflikten

Zwar haben Konflikte als soziale Phänomene keine biologischen Eigenschaften wie Fortpflanzung oder Ernährung im engeren Sinne, doch können ihnen metaphorisch Überlebensstrategien zugeschrieben werden, die ihrer Fortdauer und Verbreitung in menschlichen Gesellschaften dienen.

Zu diesen „Überlebensstrategien“ zählen:

  1. Anpassungsfähigkeit: Konflikte zeigen eine bemerkenswerte Fähigkeit, sich an veränderte soziale, politische und kulturelle Bedingungen anzupassen. Sie können sich in ihrer Form und Intensität verändern, um in neuen Umgebungen oder unter neuen Bedingungen zu „überleben“.
  2. Reproduktion durch Kommunikation: Konflikte können sich durch Kommunikationsprozesse „fortpflanzen“, indem sie Ideen, Überzeugungen und Missverständnisse verbreiten, die weitere Konflikte erzeugen oder bestehende verschärfen.
  3. Selbsterhaltung: Konflikte tendieren dazu, Mechanismen zu entwickeln, die ihre Fortdauer begünstigen, etwa indem sie die involvierten Parteien dazu bringen, sich immer stärker in den Konflikt zu verstricken, was eine Lösung erschwert.
  4. „Ernährung“ durch Ressourcen: In einem metaphorischen Sinne „ernähren“ sich Konflikte von den Ressourcen, die ihnen zur Verfügung gestellt werden, sei es in Form von Aufmerksamkeit, emotionaler Energie oder materiellen Mitteln, die in den Konflikt investiert werden.
  5. Mutation: Ähnlich wie Viren können sich Konflikte im Laufe der Zeit „mutieren“ oder verändern, um auf Gegenmaßnahmen zu reagieren oder aus vergangenen Erfahrungen zu „lernen“. Dies kann bedeuten, dass ein Konflikt, der in einer bestimmten Form gelöst wurde, in einer leicht veränderten Form wieder auftaucht.

Diese Überlebensstrategien ermöglichen es Konflikten, sich über lange Zeiträume in menschlichen Systemen zu halten. Eine systemische Intervention könnte also bei einem Konflikt immer fragen: Welches Bedürfnis hat A, welches Bedürfnis hat B, welches Bedürfnis hat der Konflikt?